1. Oktober 2016 

Marina Caba Rall und ihr Roman „Esperanza” - ein spannender Nachmittag im Hufeisencafé

Dichtungen entstehen nur nach mühsamen Reisen in den weiten Gebieten des Denkens und der Gesellschaft (Honoré de Balzac).

Kein Stuhl war im Hufeisencafé in der Fritz-Reuter-Allee 44 mehr frei, als am Samstagnachmittag um 15 Uhr Marina Caba Rall die Besucher*innen zu einer literarischen Reise einlud und die Anwesenden nicht nur zum Denken, sondern auch zu einer regen Diskussion anregte.
Mit Hilfe von Auszügen umriss die Autorin wesentliche Themenkomplexe ihres im Frühjahr dieses Jahres erschienen Romans „Esperanza”. Marina Rall liest

Erzählt wird die Geschichte der spanischen Arbeitsmigrantin Esperanza, die in den 60er Jahren nach Berlin kommt. Wir erfahren die Gründe für ihre Auswanderung aus einem Dorf in der spanischen Provinz Extremadura, die eng mit der Diktatur des Franco-Regimes verbunden sind. Wir lernen aus ihren Erfahrungen das Erleben der „Gastarbeiter”-Situation in der Bundesrepublik dieser Zeit kennen, die Momente der unwürdigen Behandlung, die auf ihrer als Arbeitskraft reduzierten Rolle beruhten, aber auch die Wandlung zu einem anerkannten Teil der Gesellschaft. Die Wertschätzung als Kollegin im Betrieb und im privaten Bereich, die Gründung einer Familie, alles dies weist auf den Umstand hin, dass Menschen mehr sind als Produktionsmittel. Sie sind Wesen mit Verstand und Gefühl, die soziale Bezüge brauchen und diese suchen und finden.
Doch die Erzählung zeigt auch, dass es immer das ganze Leben ist, durch das der Mensch geprägt ist. Ohne die Vergangenheit ist das Leben in der Gegenwart nicht möglich.
Die verschwiegenen Erlebnisse der Franco-Ära holen Esperanza wieder ein und zwingen sie zur Offenbarung gegenüber ihrer Familie. Ihr Schweigen ist in diesem Fall kein Gold, sondern führt zu einer schmerzhaften Auseinandersetzung, die sie sowohl mit ihrer Familie als auch mit sich selbst führen muss.
Buchtitel Esperanza Die Erzählung umfasst lediglich einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben Esperanzas, eine sich über mehrere Tage erstreckende Reise in ihr spanisches Heimatdorf.
Die Autorin verfolgt keinen chronologischen Erzählstrang. Vielmehr werden dem Leser mit Hilfe häufiger Rückblenden immer wieder Bruchstücke der Vergangenheit vermittelt. Auf diese Weise wird die Spannung gehalten und gesteigert. Schrittweise fügen sich diese Fragmente zu einer Lebensgeschichte, zu einem Ganzen zusammen. Dabei werden die Versatzstücke nicht nur aus der eigenen Erinnerung Esperanzas vermittelt, sondern auch aus der Perspektive ihrer Tochter Karla und ihres Sohnes Juan.
Auf diese Weise gelingt es Marina Caba Rall in nachhaltiger Weise zu zeigen, dass Persönlichkeitsentwicklung und Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie untrennbar verbunden sind und wie sehr das Fliehen vor der eigenen Geschichte auch die kommende Generation noch trifft und betrifft. Gleichzeitig macht sie aber auch deutlich, dass dieser Prozess sich nicht auf den privaten Bereich von Einzelschicksalen beschränken kann, sondern die Aufarbeitung von Vergangenheit entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrieben werden muss.

Ein Blick in das Publikum Mit diesem Buch mischt sich die Autorin sowohl in die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Franquismus in Spanien als auch in die Migrationsdebatte in Deutschland ein.
In der anschließenden mehr als einstündigen Debatte wurde nicht nur über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und in Spanien diskutiert, sondern auch die aktuelle Migrationsdebatte in Deutschland mit den darin enthaltenen Assimilations- und Integrationsansätzen kritisch aufgegriffen. Hier wies Marina Caba Rall darauf hin, dass sie den Begriff Integration nur ungern benutzt. Dieser fordert nur Anpassung von einer Seite, das reale Leben vollzieht sich jedoch - und das hat die Geschichte eindrücklich belegt - in einer anderen Art und Weise. Es sollte statt Integration lieber das Wort Interaktion verwendet werden. In Deutschland wird oft so getan, als gäbe es eine monolithische Kultur. Das sei Unsinn. In Deutschland gibt es verschiedene Werte, es gibt Leute, die glauben, es gibt Leute, die nicht glauben, es gibt Leute, die protestantisch sind, es gibt Leute, die Buddhisten geworden sind, es gibt verschiedene politische überzeugungen, es gibt Spätzle und Knödel und Kebab und Gulasch. Man tut so, als wäre Deutschland ein einheitlicher Werteblock. Dem ist aber nicht so! Man sollte also mehr über Interaktion reden, davon reden, wie man sich gegenseitig befruchten kann.

Umfang und Qualität der Diskussion ergaben ein eindeutiges Urteil über das Buch.
Es lautet: UNBEDINGT LESENSWERT.

Hufeisern gegen Rechts bedankt sich bei dem Verein der Freunde und Förderer der Hufeisensiedlung Berlin-Britz für die Nutzungsmöglichkeit der Räumlichkeiten.

Zum originalen Flyer zur Veranstaltung

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